Ludwig van Beethoven – Bearbeitungen  schottischer, irischer und walisischer Volkslieder für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio

Zu den größten Freuden eines Musikliebhabers gehört es, bislang unentdecktes Repertoire eines Komponisten kennenzulernen, dessen Werk er schon zu kennen glaubte. Beethovens Volksliedbearbeitungen sind wahrlich ein Genuss; sie bilden sicherlich den unbekanntesten und unterschätztesten Anteil seines Gesamtwerks. Der wohl auffälligste Aspekt seiner Liedbearbeitungen besteht in deren Anzahl – beeindruckende 179 Arrangements entstanden in den 11 Jahren von 1809 bis 1820.

Ein interessantes Merkmal der Arrangements ist der Umstand, dass sie nahezu gänzlich auf Englisch verfasst sind und großteils auf schottischen, walisischen und irischen Volksliedern basieren. Dies scheint noch verblüffender wenn man bedenkt, dass Beethoven zu Lebzeiten nie auf den britischen Inseln war oder gar eine offenkundige Vertrautheit mit Großbritannien hatte. Der Grund für diese Verbindung ist ein Schotte, George Thomson aus Edinburgh (1757-1851). Zu dieser Zeit  gab es in Schottland eine Bewegung zur Sammlung und Erhaltung von Volksliedern - die umfangreichsten Sammlungen datieren zurück ins frühe achtzehnte Jahrhundert. George Thomson, von Beruf Beamter, begann seine Sammlung relativ spät in den 1790ern mit dem Ziel, alle vorangegangenen an Umfang und Qualität zu übertreffen.

Anstatt sich auf einheimische Komponisten für die Arrangements zu verlassen, kontaktierte Thomson Persönlichkeiten von internationalem Ruf und fragte zunächst bei Pleyel, Kozeluch und Haydn an. Diese Komponisten lieferten zahlreiche Werke, stellten jedoch letztendlich aus verschiedenen Gründen alle ihre Tätigkeit für Thomson ein. Nun also wandte er sich an Beethoven. Er nahm  erstmals 1803 mit ihm Kontakt auf, bat ihn aber erst 1806 um Arrangements, als er ihm eine Sammlung von 21 traditionellen Melodien ohne Text zukommen ließ. Dies markierte den Beginn einer einzigartigen Zusammenarbeit.

Beethovens erste Antwort datiert vom ersten November 1806. Er diskutiert darin mehrere Vorschläge und war auch darüber informiert, dass „Herr Haydn ein britisches Pfund pro Melodie bekam“. 1809 schließlich willigte er in die formale Zusammenarbeit ein, die im Juli 1810 in der Ausgabe der ersten 53 Arrangements mündete. Diese von Edinburgh nach Wien und zurück zu versenden erwies sich während der napoleonischen Kriege als ein schwieriges Unterfangen. Beethoven verschickte ursprünglich 3 Kopien auf verschiedenen Routen und ein Jahr später noch eine weitere. Bis Juli 1812 erreichte keine einzige Thomson, und die letztlich angekommene Kopie scheint via Malta verschickt worden zu sein! Beethoven fand später heraus, dass die Route via Paris die effektivste für Post nach Edinburgh war. Die schwierigste Hürde war der Ärmelkanal - und der sicherste Weg, Post über den Kanal zu schicken, war es, Schmuggler anzuheuern.

Für viele der Lieder erhielt Beethoven gar keinen Text, da dieser oftmals noch nicht verfasst worden war. Thomson beauftragte nämlich zeitgenössische schottische Dichter, allen voran Robert Burns,  neue Verse für die ursprünglichen Melodien zu schreiben. Hierfür gibt es mehrere mögliche Ursachen – nicht zuletzt war es der Wunsch des Herausgebers, den schottischen Dialekt und fallweise ungeschliffene, vulgäre Inhalte zu vermeiden. Außerdem wollte man den Dichtungen mit Hinweisen auf aktuelle politische Geschehnisse und/oder Persönlichkeiten einen zeitgenössischen Bezug geben. Beethoven verlangte wiederholt die Texte von Thomson, da er sich außer Stande sah, Arrangements ohne Text zu schreiben.

Wie Barry Cooper in seinem Buch Beethoven's Folksong Settings erwähnt, bezeichnete Beethoven seine Arrangements als Kompositionen, was darauf schließen lässt, dass er die Aufträge ernst nahm. Als Thomson ihn darum bat, er möge seine Begleitungen doch einfacher verfassen, reagierte Beethoven gereizt und stellte diese dezidiert auf eine Stufe mit seinen übrigen Werken:
“Ich bin es nicht gewohnt, meine Kompositionen zu überarbeiten; ich habe dies niemals getan, da ich überzeugt bin, dass jegliche noch so kleine Änderung den Charakter des Werks verfälscht. Ich bedaure, dass Sie hier verlieren, jedoch kann man mich kaum für schuldig befinden, wäre es doch Ihre Aufgabe gewesen, mich mit dem Geschmack Ihres Landes und dem bescheidenen Vermögen Ihrer Musiker vertraut zu machen.”

Beethovens Arrangements sprühen vor Ideenreichtum. Die Violin- und Celloparts sind optional ausgelegt, jedoch keine bloße Reproduktion des Klavierparts. Sie sind unabhängig genug, das Stück attraktiver zu machen, wenn sie gespielt werden, aber man kann sie weglassen, ohne die Wirkung zu sehr zu beinträchtigen. Zudem zwangen die traditionellen Weisen Beethoven dazu, mit modalen Harmonien in einem klassischen Kontext zu arbeiten, manchmal mithilfe von dröhnenden Bässen, die an Dudelsäcke erinnern - ein Stilmittel, das markante Effekte erzielt. Die schnelleren Arrangements besitzen eine großartige Energie und die langsamen bewegende Expressivität - kombiniert mit einer reichen Textur und innovativer Harmonisierung.

Die Veröffentlichungen der irischen (1814, 1816), walisischen (1817) und schottischen (1818) Arrangements waren ein wirtschaftlicher Misserfolg. Thomson klagte, dass sie zu hoch und zu schwierig für das Zielpublikum seien und dass „er (Beethoven) für die Nachwelt komponiert“. Dessen ungeachtet veröffentlichte er weiterhin sowohl ältere Lieder als auch neue, bis in die 1840er Jahre, jedoch blieb ihm der kommerzielle Erfolg verwehrt. Vermutlich ist dies der Grund für die Unbekanntheit der Werke.

Warum widmete Beethoven diesen Arrangements einen solch beträchtlichen Anteil seines kompositorischen Schaffens? Die verfügbaren Informationen machen deutlich, dass finanzielle Faktoren keine Rolle bei Beethovens Motivation spielten. Von allen genannten Erklärungen scheint Barry Coopers am überzeugendsten, nämlich dass „er die Unsterblichkeit seit langem geschätzter Lieder aus der Vergangenheit dafür verwendete, um mit Thomson einen dauerhaften Bestand dieser Volkslieder für zukünftige Generationen zu schaffen.“

 

Ludwig van Beethoven – Auflistung aller 179 Volksliedbearbeitungen

25 Schottische Lieder für Singstimme und Klaviertrio op. 108
25 Irische Lieder für ein bis zwei Singstimmen und Klaviertrio WoO 152
20 Irische Lieder für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 153
12 Irische Lieder für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 154
26 Walisische Lieder für ein bis zwei Singstimmen und Klaviertrio WoO 155
12 Schottische Lieder für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 156
12 Lieder verschiedener Völker für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 157
23 Lieder verschiedener Völker für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 158a
  7 Englische Lieder für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 158b
  6 Lieder verschiedener Völker für eine oder mehrere Singstimmen und Klaviertrio WoO 158c
11 nicht katalogisierte Lieder