Joseph Haydns Volksliedbearbeitungen schottischer und walisischer Lieder

Bearbeitungen schottischer, später auch walisischer und irischer Volkslieder für Singstimme und Begleitung waren um 1800 in England äußerst populär. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Veröffentlichungsdichte von Sammlungen, die solche Bearbeitungen enthielten, stark zugenommen. Einigen Verlegern gelang es sogar, prominente europäische Komponisten als Bearbeiter für ihre Liedsammlungen zu gewinnen. Dass Komponisten wie Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und Carl Maria von Weber es sich nicht nehmen ließen, schottische Lieder zu bearbeiten, zeigt, wie hoch das Prestige (und wie gut die Bezahlung) dieser Arbeiten war. Haydn war der erste dieser bedeutenden Komponisten vom „Kontinent“, der Volksliedbearbeitungen für den britischen Markt schrieb. Zwischen 1791 und 1804 verfasste er mehr als 400 davon für den in Edinburgh ansässigen Volksliedsammler George Thomson sowie für zwei Verleger, William Napier in London und William Whyte in Edinburgh.

Dass die Bearbeitungen bislang eher im Schatten der übrigen Spätwerke Haydns standen und erst einige wenige von ihnen überhaupt aufgeführt wurden, liegt nicht zuletzt daran, dass nur ein sehr kleiner Teil in Neuausgaben verfügbar war. Erst seit dem Jahr 2005 stehen alle 429 Bearbeitungen in einer nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erarbeiteten Edition zur Verfügung: Die Gesamtausgabe Joseph Haydn Werke wurde vom Kölner Joseph Haydn-Institut herausgegeben und ist im G. Henle Verlag, München, erschienen:

Joseph Haydn: Volksliedbearbeitungen Nr. 1–100
Schottische Lieder für William Napier, hrsg. von Karl Geiringer,
München-Duisburg 1961 (Joseph Haydn Werke, Reihe XXXII, Band 1)

Joseph Haydn: Volksliedberabeitungen Nr. 101–150.
Schottische Lieder für William Napier, hrsg. von Andreas Friesenhagen,
München 2001 (Joseph Haydn Werke, Reihe XXXII, Band 2)

Joseph Haydn: Volksliedbearbeitungen Nr. 151–268,
Schottische Lieder für George Thomson, hrsg. von Marjorie Rycroft in Verbindung mit Warwick Edwards und Kirsteen McCue,
München 2001 (Joseph Haydn Werke, Reihe XXXII, Band 3)

Joseph Haydn: Volksliedbearbeitungen Nr. 269–364,
Schottische und walisische Lieder für George Thomson, hrsg. von Marjorie Rycroft in Verbindung mit Warwick Edwards und Kirsteen McCue,
München 2004 (Joseph Haydn Werke, Reihe XXXII, Band 4)

Joseph Haydn: Volksliedbearbeitungen Nr. 365–429,
Schottische Lieder für William Whyte, hrsg. von Andreas Friesenhagen in Verbindung mit Egbert Hiller,
München 2005 (Joseph Haydn Werke, Reihe XXXII, Band 5).

Haydns Bearbeitungen schottischer Lieder für William Napier

Die insgesamt 150 Lieder, die Haydn im Auftrag William Napiers arrangierte, machen chronologisch den Anfang. Haydn stellte 100 dieser Bearbeitungen während seines ersten Englandaufenthalts 1791/92 fertig, weitere 50 während der nächsten Englandreise in den Jahren 1794/95. Die Lieder wurden als zweiter Band (1792) bzw. dritter Band (1795) von Napiers Sammlung „A Selection of Original Scots Songs in Three Parts“ veröffentlicht (am ersten Band, der 1790 mit etwas abweichendem Titel herauskam, war Haydn nicht beteiligt). Sie sind alle für Singstimme mit obligater Violine und beziffertem Bass gesetzt. Dass die Besetzung nicht genauer festgelegt ist, entspricht der Zweckbestimmung dieser Lieder für das häusliche Musizieren. Die durchgängige Bezifferung (von der nicht sicher ist, ob sie tatsächlich vollständig von Haydn selbst stammt) sowie einzelne Anweisungen im Basssystem wie „Pizzicato“ oder „Coll’arco“ belegen, dass an die Mitwirkung eines Tasten- und eines Streichinstruments (Violoncello) gedacht war. Haydn stattete die Bearbeitungen für Napier nicht mit instrumentalen Vor- und Nachspielen, den sogenannten „Symphonies“, aus. Diese Zutat zur eigentlichen Liedbearbeitung sollte erst in den Sammlungen von Napiers „Nachfolgern“ Thomson und Whyte zur Regel werden. Nach Auskunft Napiers im Vorwort zu Band 1 seiner Sammlung können Einleitungen und Nachspiele jedoch auf Grundlage der Liedmelodie von den Musikern improvisiert werden.

William Napier (1740?–1812) stammte aus Schottland, war aber seit 1765 in London ansässig und dort als Geiger u. a. in der Privatkapelle König Georgs III. und in den Orchestern der „Professional Concerts“ und der „Academy of Ancient Music“ tätig. Seit Ende der 1770er Jahre veranstaltete er eine eigene Konzertreihe in der „Thatched House Tavern“ in St. James’s Street. Inzwischen hatte er in London auch einen Musikalienhandel mit angeschlossenem Verlagsbetrieb eröffnet. Gegen Ende der 1780er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation seines Geschäfts beträchtlich, und Mitte 1791 musste Napier sogar Konkurs anmelden und war von Inhaftierung bedroht. An diesem Punkt kommt Joseph Haydn ins Spiel, der sich seit Anfang des Jahres, gewissermaßen als „Composer in Residence“ im Dienst von „Salomon’s Concerts“, der Konzertreihe des gebürtigen Bonners Johann Peter Salomon, in England aufhielt. Napier dürfte zu den Londoner Musikern gehört haben, die Haydn während seines Aufenthalts persönlich kennenlernte. Um dem Verleger aus seiner ökonomischen Notlage herauszuhelfen, schrieb Haydn für ihn seine Bearbeitungen schottischer Volkslieder. So jedenfalls berichten ungefähr übereinstimmend die einzigen Gewährsmänner für dieses Geschehen, die frühen Haydn-Biographen Georg August Griesinger und Albert Christoph Dies: „Nepire, ein englischer Musikhändler“, heißt es beispielsweise in Griesingers „Biographischen Notizen über Joseph Haydn“ (1810), „hatte zwölf Kinder, und sollte Schulden halber in Arrest kommen. Haydn richtete für ihn ein volles Hundert schottischer Lieder auf moderne Art, in Begleitung eines Basses und einer Violine [...] ein. Diese Lieder fanden so guten Absatz, daß Nepire aus seiner Geldverlegenheit gerissen wurde [...]“.

Der im Juni 1792 erschienene Band mit Haydns Bearbeitungen scheint tatsächlich dazu beigetragen zu haben, die Probleme des Verlegers zu lösen. Zwei Jahre später, während Haydns zweitem Englandaufenthalt, setzten Komponist und Verleger dann ihre Zusammenarbeit fort. Mit neuen Bearbeitungen, die dem Muster der ersten hundert entsprachen, beabsichtigten sie an den Erfolg ihrer ersten gemeinsamen Veröffentlichung anzuknüpfen. Band 3 von Napiers Sammlung sollte - wie sein Vorgänger - zunächst 100 Lieder umfassen. Aus unbekannten Gründen blieb es jedoch bei den 50 Bearbeitungen, die schließlich im Juli 1795 veröffentlicht wurden.

Da außer einem fragmentarischen Autograph zu einem der Lieder keine weiteren Quellen neben Napiers Ausgaben überliefert sind, müssen Fragen nach der exakten Datierung, nach den Umständen der Entstehung und etwaigen Abweichungen zwischen ursprünglicher und veröffentlichter Form der Bearbeitungen offen bleiben. Es ist ebenfalls nicht bekannt, in welcher Form Napier dem Komponisten die Lieder zugänglich machte, ob er Haydn nur die Melodien oder auch deren Titel und Texte mitteilte (von Thomson und Whyte sollte Haydn später nur die Melodien zur Bearbeitung erhalten, nicht aber die Texte). Napiers Quelle waren in der Hauptsache wahrscheinlich die bereits veröffentlichten Bände des „Scots Musical Museum“, einer Sammlung schottischer Volkspoesie mit entsprechenden Melodien, die in sechs Bänden zwischen 1787 und 1803 herauskam. Insgesamt enthielt das „Museum“ sechshundert schottische Lieder und war damit die seinerzeit umfangreichste Sammlung dieser Art. Ein großer Teil der Melodien, die Haydn für Napier arrangierte, ist im „Museum“ enthalten. Doch geht Haydn mit seinen Bearbeitungen weit über seine Vorlagen hinaus und macht aus jedem einzelnen Lied – bei aller zweckgebundenen Schlichtheit – ein kleines Meisterwerk.

Andreas Friesenhagen, Joseph Haydn-Institut, Köln © 2008

Joseph Haydns „Symphonien und Arrangements“ zu den „Originalen Schottischen Liedern“ herausgegeben von George Thomson

George Thomson (1757-1851), ein Freund des berühmten schottischen Dichters Robert Burns, war Hobbymusiker, Volksliedsammler, Herausgeber und Verleger. Er lebte in Edinburgh und arbeitete fast 60 Jahre lang als Sekretär bei der Vereinigung zur Förderung der Künste und der Industrie in Schottland. Im Laufe seines langen Lebens widmete Thomson seine ganze Freizeit und Energie und auch viel Geld dem Sammeln und Herausgeben von schottischen, walisischen und irischen Volksliedern. Alle anderen Sammlungen, einschließlich Napiers, beurteilte er als „mangelhaft und widerlich“. Thomson setzte sich zum Ziel, „eine Sammlung aller hervorragenden, sowohl traurigen als auch lustigen, aber keiner oberflächlichen und minderwertigen Volkslieder, herzustellen; die passendsten und feinsten Begleitungen mit zusätzlichen, charakteristischen Symphonien für jedes Lied als Einleitung und Schluss in Auftrag zu geben; und der Musik in jeder Hinsicht würdige, kongeniale und interessante Lieder [Verse und Strophen] hinzuzufügen“.

Bei der Ausführung dieses Vorhabens gab er “Symphonien und Begleitungen“ für Violine, Cello und Klavier bei den besten europäischen Komponisten der damaligen Zeit wie Pleyel, Kozeluch, Joseph Haydn, Beethoven, Hummel und Weber in Auftrag. Er lud die berühmtesten schottischen Dichter wie Joanna Baillie, Robert Burns, Alexander Boswell, Anne Grant, Anne Hunter, Hector Macneil und Walter Scott ein, neue Strophen zu schreiben; und er engagierte Künstler und Lithographen wie Thomas Stothard und Paton Thomas, schöne Einlegeblätter für seine beachtlichen Foliantenbände herzustellen. Dieses einzigartige und anspruchsvolle Projekt beschäftigte Thomson über 50 Jahre. Im Laufe dieser Zeit gab er in drei Sammlungen insgesamt mehr als 600 Lieder heraus: 6 Bände schottischer Lieder (1793-1841), 3 Bände walisischer Lieder (1809, 1811, 1817) und 2 Bände irischer Lieder (1814, 1816).

Die Zusammenarbeit zwischen George Thomson und Joseph Haydn, der fast ausschließlich Beiträge zu den schottischen und walisischen Sammlungen lieferte, begann am 30. November 1799. Nachdem Thomson bereits vier Bände mit Arrangements zu 32 Liedern von Ignaz Pleyel und 68 von Leopold Kozeluch herausgegeben hatte, wandte er sich in einem Brief an Alexander Straton, den Sekretär der britischen diplomatischen Mission in Wien, mit der Bitte, nunmehr auch Haydn für das Projekt zu gewinnen:
 „Ich bitte um die Erlaubnis, das beigelegte Paket für Haydn in Ihre wohlgesinnte Obhut zu geben; es kann abgeschickt werden, sobald es Ihnen genehm ist. Es liegt mir sehr viel [...] an seiner Zustimmung, die Symphonien und Begleitungen für die dreißig Lieder zu machen [...]. Ich glaube nicht, dass er ablehnen wird, aber sollte das Gegenteil der Fall sein, wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie ihn in irgendeiner Weise dazu überreden könnten; wenn nötig dürfen Sie ihm in meinem Namen ein paar Dukaten mehr als die Summe, die ich genannt habe, anbieten, nur darf er unter keinen Umständen herum erzählen, wie viel er bekommt. Ich weiß zufällig, dass er einem Londoner Musikalienhändler [William Napier] für die Komposition einiger Arrangements nur die Hälfte dessen in Rechnung stellte, was ich ihm angeboten habe. Ich erwarte nicht, dass er die Begleitungen besser machen wird als Kozeluch, das ist kaum möglich; aber in den Symphonien wird Haydn großartig und originell sein. Vor allem bringt sein Mitwirken eine Vielfalt ins Werk, die so notwendig ist. Wenn sein Name zu denen von Pleyel und Kozeluch erscheint, können wir stolz sagen, dass die schottischen Melodien von den drei größten Meistern der modernen Musik in Harmonien gesetzt wurden. Ich bitte Sie daher inständig, mein lieber Herr, alles, was in Ihrer Macht steht, zu unternehmen, um Haydn für mich zu gewinnen, in der Annahme, dass er zwei Dukaten für jedes Lied verlangen wird […]“

Haydn stimmte den Bedingungen zu und schickte Thomson zwischen dem 18. Juni 1800 und dem 30. Oktober 1804 insgesamt 208 Lieder und 6 Gruppen Variationen. Die beiden sind einander nie begegnet. Sie pflegten jedoch in ihrer Korrespondenz einen warmherzigen, sogar freundschaftlichen Ton, indem sie für einander Ansprachen wie „stimatissimo Amico“ oder „Mio amico caro“ fanden. Ursprünglich wurde ihr Briefwechsel über das Sekretariat der Britischen Botschaft in Wien durchgeführt, ab 1801 sind die Briefe dann mit eigener Hand und üblicherweise auf Italienisch geschrieben; den Briefen wurden jeweils die Noten beigelegt. Mit Ausnahme des Liedes The blue bell of Scotland (JHW 263) waren diese allerdings keine eigenhändigen Autographen Haydns, sondern schöne, von Johann Elssler oder einem anderen, Haydn vertrauten Kopisten gemachte Abschriften. Diese handschriftlichen Noten zeigen, dass Thomson Haydn die Lieder in einer nummerierten Reihenfolge, aber ohne Titel oder Text geschickt haben muss. Nur die Melodie mit vielleicht einer Tempobezeichnung und einer kurzen Liedscharakteristik haben genügt. Ziemlich sicher ist, dass Thomson seine Lieder aus den Liedsammlungen des 18.Jahrhunderts wie dem Orpheus Caledonius (1733), das er in seiner Bibliothek stehen hatte, und aus The Scots Musical Museum (1787-1803) auswählte, in welchem die meisten Beiträge aus der Feder von Robert Burns bis zu dessen Tode im Jahre 1796 stammen.

Obwohl Haydn weder Titel noch Text der Lieder kannte, legt er ein tiefes Verständnis für die Art und den Charakter der schottischen Melodien an den Tag. Unter allen Komponisten Thomsons war er der einzige, der in der Lage war, Arrangements zu schreiben, die Thomson durchwegs begeisterten.
Vielleicht liegt die Erklärung in Haydns Londoner Aufenthalten, im Laufe derer er den Geschmack und das musikalische Können der britischen Hobbymusiker, für welche die Liedsammlungen Thomsons ja gedacht waren, einzuschätzen gelernt hatte. Zweifellos behielt Thomson immer im Auge, dass technisch anspruchsvolle Passagen in den Klavier- und Streicherparts bzw. zu hohe Töne in den Singstimmen zu vermeiden waren. Spürte er, dass ein Arrangement zu schwierig „per nostri sonatori“ sei, komponierte er entweder schlichtweg selbst eine einfachere Version oder bat den Komponisten, das Arrangement zu überarbeiten. Sehr zum Ärger von Kozeluch und Beethoven verlangte er von ihnen sogar öfter derartige Neubearbeitungen! Die einzigen revidierten Fassungen, die Thomson hingegen von Haydn erbat, waren acht neue Violinstimmen, sechs neue „Symphonien“ und eine einfachere Klavierbegleitung für das Lied Johny Faw (JHW 340), die Haydn alle mit großer Selbstverständlichkeit lieferte.

Der Kompositionsauftrag für Thomson scheint Haydn viel Freude gemacht zu haben, zumindest in der Zeit, bevor Krankheit und Alter ihn vom Komponieren abhielten. Im Januar 1802 schrieb er eigenhändig und in Großbuchstaben: „MI VANTO DI QUESTO LAVORO“ (“Ich bin stolz auf diese Arbeit”). Thomson war überglücklich, dass sein Lieblingskomponist, „der unvergleichliche und unsterbliche Haydn“, sich in solch glühenden Tönen ausdrückte.

Die Lieder und Variationen wurden zwischen 1800 und 1802 komponiert, zur selben Zeit als Haydn an seinen letzten zwei Messen, an der Schöpfungs-und an der Harmoniemesse, und an seinem Oratorium Die Jahreszeiten arbeitete. 1803 verschlechterte sich Haydns Gesundheitszustand so sehr, dass er Thomsons Auftrag nur mehr mit der Hilfe eines seiner Schüler, Sigismund von Neukomm (1778-1858) erfüllen konnte. Es ist nunmehr bekannt, dass 36 der 96 Lieder, die Haydn 1803-1804 an Thomson schickte, eigentlich von Neukomm sind, und über die Authentizität der restlichen Lieder bestehen ebenfalls Zweifel. Thomson wusste natürlich nichts von Neukomms Beitrag, obwohl er vielleicht etwas enttäuscht über die Qualität einiger der späteren Arrangements gewesen sein mag, denn fast 30 Lieder blieben unveröffentlicht bis zu deren Aufnahme in die neue, von Rycroft, Edwards und McCue herausgegebene Ausgabe Joseph Haydn Werke (JHWXXXII/3 & 4). Neukomm fand sich zum Großteil sehr gut in Haydns Kompositionsstil ein und wurde vielleicht sogar von Haydn instruiert, die „Symphonien und Begleitungen“ im Stil und Charakter der ersten, von Haydn geschriebenen Takte zu vervollständigen. Viele Hinweise in den Abschriften deuten darauf hin, dass Haydn mit seinem Schüler zusammenarbeitete und bestimmte Passagen überwachte und korrigierte, bevor er Neukomms Arbeit schließlich approbierte und die Lieder unter seinem eigenen Namen nach Edinburgh schickte. Es ist allerdings nicht bekannt, ob Neukomm einen Teil von Haydns Honorar erhielt, das sich bereits auf vier Dukaten pro Lied erhöht hatte!

Unter den 96 Volksliedarrangements, die Haydn 1803 und 1804 nach Edinburgh schickte, befindet sich auch eine Gruppe von 60 walisischen Liedern, die Thomson für seine Select Collection of Welsh Airs (Auswahlsammlung Walisischer Lieder) in Auftrag gegeben hatte.
Unter der Anleitung Thomsons fügte sich Haydn in die schönen Melodien gut ein, und es gelang ihm, die walisischen Lieder in einer sehr einfühlsamen, ausgeprägt lyrischen Art und Weise zu arrangieren. Obwohl er die Texte nicht vor sich hatte, passen seine Bearbeitungen sehr gut dazu oder, besser gesagt, die Dichtung, die Thomson in Auftrag gab, nachdem er Haydns Arrangements erhalten hatte, passt sehr gut zur Musik.

Marjorie Rycroft, University of Glasgow © 2006
(Übersetzung Susan Doering)

„For an obscure music seller“ – Haydns Bearbeitungen schottischer Volkslieder für William Whyte

Nach William Napier und George Thomson trat im Jahr 1802 schließlich der Buch- und Musikalienhändler William Whyte (1771–1858) aus Edinburgh mit einem Angebot zur Bearbeitung schottischer Lieder an Haydn heran. Über Whyte wissen wir nicht viel. Sein Geschäft befand sich angeblich von etwa 1799 bis 1809 unter der Adresse „at the sign of the Organ, 1 South St Andrews Street“ in Edinburgh. In seinem Verlag brachte er populäre Volksmelodien im Klavierarrangement heraus sowie „Scots tunes“ für Instrumentalensemble von verschiedenen Autoren. Daß er Haydn mit der Bearbeitung schottischer Lieder beauftragte, hat sicherlich mit dem Eindruck zu tun, den die in ihrer Ausstattung und ihrer inhaltlichen Zusammensetzung gleichermaßen ambitionierten Liedsammlungen George Thomsons bei ihn hinterließen. Whyte nahm sie sich jedenfalls für seine eigene zum Vorbild: Er gab die Bearbeitungen – wie Thomson – mit instrumentalen Vor- und Nachspielen und auskomponierten Begleitsätzen für Klavier, Violine und Violoncello in Auftrag und orientierte sich obendrein an der Aufmachung von Thomsons Ausgaben.

Whyte veröffentlichte in den zwei Bänden seiner Sammlung „A Collection of Scottish Airs, Harmonized for the Voice & Piano Forte with introductory & concluding Symphonies; and Accompaniments for a Violin & Violoncello. By Joseph Haydn Mus. Doct.“ insgesamt 65 Bearbeitungen. Der erste Band mit 40 Liedern erschien 1804, der zweite folgte drei Jahre später mit 25 Liedern; auch dieser Band sollte ursprünglich 40 Lieder enthalten. Unter welchen Umständen und zu welchem Zeitpunkt der Verleger mit Haydn in Kontakt kam, ist nicht bekannt. Aus verschiedenen Indizien läßt sich jedoch erschließen, daß Whyte im Herbst 1802, vermutlich im November, 50 Melodien zur Bearbeitung an Haydn übersandt haben muß. Haydn handelte mit ihm das ausgesprochen hohe Honorar von 20 Gulden für eine Bearbeitung aus und machte sich danach offenbar unverzüglich an die Arbeit. Schon Ende 1802 oder Anfang 1803 schickte er ihm die ersten fertigen Lieder zu. Um den Auftrag Whytes schnell erledigen zu können, unterbrach er nicht zuletzt seine – weniger gut dotierte – Tätigkeit für Thomson. Haydn war, als er mit Whyte handelseinig wurde, mit Arbeit aus dem älteren Auftrag noch gut eingedeckt.
Bis spätestens Anfang 1804 scheint Haydn sämtliche 50 Melodien, die Whyte ihm im Herbst 1802 zugeschickt hatte, bearbeitet und die fertigen Lieder nach Edinburgh geschickt zu haben. Aus ihnen wählte der Verleger 40 aus, die er im ersten Band der „Collection“ veröffentlichte, zehn hielt er für die zweite Folge zurück. Zu einem unbekannten Zeitpunkt schickte er Haydn nochmals 30 Melodien zur Bearbeitung zu. Diese zweite Lieferung Whytes aber gab Haydn vollständig an Neukomm weiter. Das darf nicht verwundern, machten sich bei dem über siebzigjährigen Haydn doch schon länger Krankheit und Altersschwäche bemerkbar, die ihm das Komponieren fast unmöglich machten. Sein letztes größeres Werk, das Streichquartett d-Moll Hob. III:83 („op. 103“), musste 1806 als Torso erscheinen, da Haydn bis 1803 nur noch die beiden Mittelsätze vollenden konnte. Neukomm, der damals im russischen St. Petersburg lebte, bearbeitete die 30 Melodien für Haydn, und zwar in zwei Gruppen zu je 15 Liedern: Die erste stellte er im Oktober 1804, die zweite erst über ein Jahr später, im November 1805, fertig, wie dem „Verzeichniß meiner Arbeiten“ zu entnehmen ist, einem Werkverzeichnis, das Neukomm zu dieser Zeit bereits führte. Allerdings wurden nur die 15 Lieder vom Oktober 1804 auch von Whyte veröffentlicht. Die Lieder der zweiten Gruppe scheinen den Verleger (oder bereits Haydn?) nie erreicht zu haben. Aus diesem Grund musste 1807 der zweite Band von Whytes „Collection“ mit nur 25 statt der geplanten 40 Lieder erscheinen.

George Thomson war auf Whyte, den er einmal einen „obscure music seller“ nannte, nicht gut zu sprechen. Vor allem warf er ihm vor, seine Ausgaben zu imitieren, dürfte aber auch nicht begeistert davon gewesen sein, daß Whyte einige der Melodien in Haydn-Arrangements veröffentlichte, die er selbst ebenfalls in Auftrag gegeben hatte. Insgesamt 27 Melodien bearbeitete Haydn sowohl für Whyte als auch für Thomson. Aber Haydn wiederholte sich so gut wie nie: Fast jedesmal gestaltete er Vor- und Nachspiele und Begleitsatz anders. Nur einmal verkaufte er dieselbe Bearbeitung an beide Verleger: „Wandering Willie“. Die für Thomson bestimmte, spätere Fassung wurde von Haydn lediglich um eine zweite Singstimme ergänzt (Thomson veröffentlichte sie dennoch nicht).

Haydn ließ sich durch die große Fülle der zu bearbeitenden Melodien nicht daran hindern, einer jeden von ihnen seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Mit schier unerschöpflicher Phantasie entwarf er stimmungsvolle Instrumentalsätze, reihte ein kleines funkelndes Juwel ans andere. Zweifellos repräsentieren die Liedbearbeitungen einen bedeutenden Bereich von Haydns Spätwerk, der erst seit kurzem wiederentdeckt wird. Haydn investierte all seine Erfahrung und sein Können in diese Bearbeitungen, die man vielleicht als letzte Liebe seines langen Komponistenlebens bezeichnen könnte, nachdem der Strom seiner Sinfonien, Quartette, Trios und Sonaten endgültig versiegt war.

Andreas Friesenhagen, Joseph Haydn-Institut, Köln © 2007